Anna Atkins in der New York Public Library
Ich stehe in einem kleinen, abgedunkelten Raum der New York Public Library und staune über Anna Atkins , deren Werk ich hier zum ersten Mal sehe. Über die fotografische Methode, die sie verwandte, um die ersten mit Fotos illustrierten Bücher überhaupt herauszugeben, und über die Zeitreise, die hier so mühelos gelingt. Die Werke sind so perfekt erhalten, als wären sie erst vor kurzem angefertigt worden und die Ästhetik lässt sich ohne die geringste geistige Übersetzung direkt genießen – dabei stammen sie aus der Mitte des vorletzten Jahrhunderts. Ich denke, am meisten imponiert mir der Pioniergeist der Fotografin und ihre beharrliche Arbeit über Jahrzehnte. Wie konnte das alles gelingen?
Cyanotypie und Algen
Zum Beispiel mit einem Vater, der die Tochter förderte und ihr die Liebe zur wissenschaftlichen Beobachtung der Natur vermittelte. Atkins Mutter war ein Jahr nach ihrer Geburt verstorben und der Zusammenhalt zwischen Vater und Tochter so stark, dass er sogar fortbestand, nachdem Atkins heiratete. Anna Atkins lernte Zeichnen und Lithographie, illustrierte ein Übersetzungswerk des Vaters über Muscheln und kam in Kontakt mit dem britischen Physiker Herschel, der die Cyanotypie kurz zuvor erfunden hatte. Sie erlernte diese Technik höchstwahrscheinlich direkt von ihm und wandte sie als erste systematisch an: Für Fotografien von Algenarten. Diese waren nicht nur von wissenschaftlichem Interesse, sondern entfalteten eine poetische Schönheit, die damals wie heute Betrachter*innen verzaubert. Atkins Hauptwerk entstand in den Jahren von 1841 bis 1853.
Freundschaft und Ästhetik
Auch die Heirat behinderte den schöpferischen Prozess keineswegs, auf Reisen mit ihrem Mann fertigte sie wunderbare Landschaftsskizzen und Gemälde an. Nach Abschluss ihres Hauptwerks tat sie sich überdies mit ihrer Freundin Anne Dixon für ein Gemeinschaftsprojekt zusammen. Das dabei entstandene Werk enthält verschiedene Pflanzen, Federn und Blüten und entfaltet endgültig das volle Potential der Technik, da die beiden Fotografinnen, unabhängig von einem erhofften wissenschaftlichen Nutzen, der Ästhetik den Vorrang geben konnten.
Urheberin und Werk
Damals war es wohl üblich größere Werke in Teilen zu publizieren. Zum einen, damit die Urheber*innen schneller zu ihrem Geld kamen bzw. den Prozess überhaupt fortsetzen konnten, zum anderen – wenn dabei auch Verlage im Spiel waren – um Herstellungskosten zu sparen. Denn die Käufer*innen sammelten die einzelnen Abschnitte und ließen sie sich erst nach Erhalt aller ‚Papiere‘ dann so binden, wie es ihnen gefiel. Im Falle von Atkins hatte diese Vorgehensweise auch gleich noch einen weiteren Vorteil, der auch für andere wissenschaftlich-systematische Werke zugetroffen haben dürfte: Sie konnte im Verlauf ihrer Arbeit festgestellte Änderungen in der Systematik der Pflanzen oder Zuordnungsirrtümer per beigelegtem Hinweisblatt an die Kund*innen transportieren, und diese entsprechend die Blätter anders anordnen oder austauschen.
Foto-Pionierin
Anna Atkins hat insgesamt zwölf Exemplare ihres Algen-Werks produziert, bei der jedes einzelne entsprechend präparierte Fotopapier von der Sonne belichtet und danach abgewaschen und getrocknet werden musste. Ganz abgesehen von der vorangegangenen Sammelarbeit und der Kunst, die Objekte möglichst effektiv anzuordnen. Es war ihr auf diese Weise möglich, akkurate Abbildungen ihrer Proben anzufertigen. Auch wenn sich die Technik der Cyanotypie nur einer kurzen Zeit der Blüte erfreute: Atkins hat sie zur Perfektion gebracht und ein im wahrsten Sinne originäres Werk geschaffen.